e+i aktuell: Smart Standards - mit Normen Lösungen gestalten

Im Interview mit der e+i gibt Ralph Sporer, Vizepräsident von IEC (International Electrotechnical Commission), Einblick in das Thema „Smart Standards“. Wir haben mit ihm über den Weg zur All Electric and Connected Society sowie über die Digitalisierung und die gesellschaftliche Relevanz von Normung gesprochen.

e+i:  Was bedeutet die digitale Transformation für den Normungsprozess, von der Entstehung bis zur Anwendung von Normen?

Ralph Sporer: Für Normungsorganisationen wird die digitale Transformation tiefgreifende Veränderungen bringen, allerdings ist das Ganze schrittweise zu sehen: Wir können nicht davon ausgehen, dass wir einen Schalter umlegen, und mit einem Schlag befinden wir uns in der Zukunft und haben einen neuen Prozess und die dazugehörigen Produkte, die dann anders funktionieren.

Die nächsten Jahre werden vielmehr eine Übergangszeit sein, in der wir uns damit zufriedengeben müssen, ein digitales Abbild von bereits Vorhandenem zu erzeugen und das auch am Markt anzubieten.

Zahlreiche Normen müssen überhaupt erst für eine Digitalisierung ertüchtigt werden. Wir sollten das auch zum Anlass nehmen, bestehende Prozesse zu hinterfragen und gegebenenfalls zu ändern. Denn eines ist klar: Wenn Sie einen schlechten Prozess digitalisieren, haben Sie hinterher einen digitalen schlechten Prozess. (...)

Somit kann ich bei Änderungen irgendwo in diesem Zyklus, egal, ob auf der Direktiven- oder auf der Normen-Seite, die Auswirkungen auf mein Produkt sofort durchkalkulieren. Das erleichtert wiederum den Marktzugang – und wäre somit aus meiner Sicht das „Lösen des wirklichen Problems“.

Es geht heute also nicht mehr primär darum, Normen zu verkaufen, sondern Problemlösungen zu gestalten. (...)

Mehr über SMART Standards erfahren Sie in unserem Beitrag "SMART Standards: Was sie können und warum wir sie brauchen".

e+i:  Die Digitalisierung eröffnet viele neue Möglichkeiten – welche neuen Services können den Normen-Anwendern dadurch angeboten werden?

Sporer: Fangen wir mal mit dem Einfachsten an: Ein Service, den ich als Kunde natürlich erwarte, ist eine digitale Bereitstellung des Inhalts. Schritt eins ist also, nicht nur die Norm, sondern auch ihre einzelnen Bestandteile zugänglich zu machen, damit ich in der Lage bin, sie in einem entsprechenden System zu nutzen und in den Workflow zu integrieren. Es gibt hier bereits Pilotprojekte, wo man die entsprechenden Requirements direkt aus der Norm extrahieren und beim Kunden in Requirements Engineering Tools einspielen kann.

Als sogenannte Low-Hanging Fruit möchte ich dann natürlich, dass ich das automatisiert über eine Schnittstelle erledigen kann.

In einer weiteren Ausbaustufe könnte die dynamische, automatische Einhaltung einer Liste von Requirements aus den Normen, die mit den Essential Requirements der europäischen Direktiven verknüpft ist, folgen. Idealerweise ist das dann ohne zusätzliche Vorbereitung und in Echtzeit umsetzbar. Das heißt, als Kunde weiß ich, welche Requirements den Essential Requirements der Direktiven unterlegt sind, und ich weiß, wie diese Requirements zu verifizieren sind.

"Wenn Sie einen schlechten Prozess digitalisieren, haben Sie hinterher einen digitalen schlechten Prozess."
Vizepräsident von IEC

e+i:  Wir befinden uns auf dem Weg zur so genannten All Electric and Connected Society: Was sind die Folgen dieser Entwicklung für IEC?

Sporer: Ich möchte hier zunächst ganz klar zwischen „All Electric“ und "Connected“ unterscheiden.

All Electric ist für uns gewissermaßen Business as usual, das machen wir jetzt seit über 100 Jahren. Natürlich kommen laufend neue Anwendungsfelder hinzu, für die wir auch neue Normen schaffen und Lücken schließen müssen, etwa im DC-Bereich, der jetzt durch die Erneuerbaren immer wichtiger wird, oder auch im Bereich der Electric Vehicles, wo die Ladeinfrastruktur ertüchtigt werden muss. Aber das sind Themen, die wir seit dem Aufkommen von Smart Grids und Electric Vehicles bearbeiten, wir haben hier bereits etablierte Gremien.

Das Thema Connected stellt sich ganz anders dar. Wir wollen dabei über Grenzen von Sektoren hinweg Daten sammeln, nutzen und verstehen. Das Problem ist, dass wir heute noch nicht die technologischen Möglichkeiten haben, alle Daten so miteinander zu verknüpfen, dass wir aus dem enormen Datenwust auch Verständnis erzeugen können.

Normung kann eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, Interoperabilität zwischen Daten herzustellen und zu optimieren – da ist aber noch viel zu tun.

e+i:  Wie können Normungsinstitutionen diese zunehmende Elektrifizierung unseres Lebens nutzen, um in der Öffentlichkeit die Bedeutung von Normung noch wahrnehmbarer zu machen?

Sporer: Beim Ansprechen der breiten Öffentlichkeit haben wir in der elektrotechnischen Normung noch viel Luft nach oben. Wir sind es gewohnt, uns in einem relativ begrenzten Zirkel zu bewegen, nämlich in der Elektrotechnik – und Elektrotechniker:innen sehen Marketing meist als nicht unbedingt notwendig an. (...)

Wir müssen hier neue Zugänge finden und können dabei durchaus von anderen lernen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vielen Eltern dürfte „Isofix“ ein Begriff sein. Isofix ist ein Befestigungssystem für Kindersitze im Auto, benannt nach einer ISO-Norm. Seine Nutzer:innen kommen automatisch mit ISO in Berührung, das Branding hat also bestens funktioniert.

Und so etwas wäre auch für IEC eine Möglichkeit: Ein großer Handyhersteller wirbt ja intensiv damit, dass seine wasserdichten Smartphones über eine IP-Schutzklasse verfügen – und die basiert auf einer IEC-Norm, was kaum jemand weiß. Würden wir das besser kommunizieren, könnten wir damit eine über die Grenzen der Fach-Community hinausgehende Sichtbarkeit von IEC erreichen.

Vertrauen in zunehmende Technologisierung aufbauen

e+i:  Das führt uns zu einer generellen Frage: Wie kann es gelingen, in der Öffentlichkeit Vertrauen in die zunehmende Technologisierung aufzubauen und die Vorteile der neuen Technologien, unter anderem auch im Bereich automatisierte Systeme und Künstliche Intelligenz (KI), besser darzustellen? Und was kann die Normung dazu beitragen?

Sporer: Ich denke, die Rolle der Normung bei der Wegbereitung für neue Technologien ist ganz klar die eines Trust Enablers. Normungsorganisationen machen das Vertrauen in die Funktionalität und Sicherheit neuer Technologien erfahrbar, indem sie messen und klassifizieren.

Die Frage ist ja: Wie kann ein Laie, der von KI nichts versteht, der Technologie trauen, wenn er ein Produkt mit KI kauft? Um ein solches Vertrauen herzustellen, braucht es unabhängige Organisationen, die einen objektiven demokratischen Anspruch vertreten. Und da kommt ISO und IEC eine ganz herausragende Rolle zu, weil sie die von der WTO anerkannten internationalen Instanzen sind, die diesem demokratischen Prinzip auch folgen. (...)

Normungsorganisationen vertreten nicht ihre eigenen Interessen, sondern gewinnen Legitimation aus einem Abstimmungsprozess. (...)

e+i:  Wie sieht es mit dem Nachwuchs in der Normung aus?

Sporer: Leider fällt es uns trotz der eben erwähnten Vorteile immer schwerer, Kolleg:innen für die Teilnahme an der Normung zu motivieren. Ich denke, als Normungsorganisation müssen wir dem mit einer Modernisierung unserer Arbeitsweise entgegenwirken. Inhaltlich sind wir, was neue Themen betrifft, schon sehr gut aufgestellt. Aktuell werden beispielsweise Themen wie Metaverse oder Quantentechnologien bearbeitet, wir sind also am Puls der Zeit und können schnell die Normungsrelevanz in Trendthemen herausfinden.

Nichtsdestotrotz müssen wir im Bereich Digitalisierung an Tempo zulegen. Um für die Industrie attraktiv zu bleiben, haben wir aus meiner Sicht noch ein Zeitfenster von etwa zehn Jahren für den erfolgreichen Abschluss der digitalen Transformation. (...)

Das vollständige Interview mit Ralph Sporer lesen Sie in der neuen Ausgabe unserer Verbandszeitschrift e+i. Als OVE-Mitglied finden Sie die digitale Ausgabe in Ihrem persönlichen Login-Bereich unter "Mein OVE/Mitgliedschaft".