Pandora's Box bei der IMAGINE21

Gastbeitrag von Julia Ornatowski

Naturwissenschaften wie die Informatik werden seit jeher als logische, nicht wertende Disziplinen behandelt, die weder im akademischen noch im beruflichen Umfeld allzu viel Platz für kritisches Hinterfragen übriglassen. Doch in den letzten 15 Jahren wurden Tech-Diskurse immer mehr in Richtung sozialgesellschaftlicher Fragestellungen gelenkt.

Aspekte wie Regulierung von Technologien oder ihre Auswirkungen auf Ordnungsprinzipien sind dabei meist komplexer als ihre technischen Hintergründe und benötigen ein noch nicht erfülltes Maß an Interdisziplinarität. Die Welt der Techniker hat zwar viele „Problem Solver”, jedoch zu wenige „Problem Setter”, und es herrscht ein Überschuss an Rationalität der Mittel und ein Mangel an Rationalität der Zwecke.

Diskurs zur digitalen Transformation

Mit diesem Plädoyer eröffnete das „literarische Quartett“, dessen Kern aus den interdisziplinär veranlagten Informatikern Michael Funk, Peter Reichl und Christopher Frauenberger besteht, gemeinsam mit dem Innovationsexperten Michael Wiesmüller bei der IMAGINE21 seine Diskussion.

Was sonst in der entspannten Atmosphäre eines kleinen Wiener Beisls im 17. Bezirk diskutiert wird, um den Diskurs zur digitalen Transformation vor allem in technischen Disziplinen selbst anzuregen, wurde im Rahmen dieser Digitalkonferenz auf ein wortwörtliches Podium gehoben, wobei durch die aus dem Beisl mitgebrachte Stehlampe und den nachdrücklichen Appell zur Beteilung des Publikums an der Diskussion versucht wurde, wenigstens einen Teil der originalen Stimmung in das Online-Setting zu übertragen.

Als Basis für die Diskussion dienten die kürzlich erschienen Werke „Privacy is Power“ (2020) sowie „Die Anbetung“ (2020) der beiden Autorinnen Carissa Véliz und Marie-Luise Wolff, die sich nicht nur durch ihr Geschlecht von der sonst oft durch weiße Männer mittleren Alters geprägten Technologie-Szene abheben.

So bringt die Oxford-Professorin für „Ethics & AI“ Carissa Véliz als Digital Native mit frischem Blick ihre Empörung über den Umgang mit privaten Daten durch die Digitalisierung zu Papier. Sie teilt ihren konstruktiven Zorn, der die Leser wachrüttelt und mehr in Aktivismus statt in blinde Aufregung treibt. „Wir sind so oft fasziniert von der Technologie, dass wir den Verstand an der Tür abgeben“ – anhand dieses frechen Zitats diskutierten die Teilnehmer über die ethische Verantwortung der Ingenieur/innen, welche oft durch Ressourcenmangel wegargumentiert wird.

Im Zentrum des Gesprächs steht aber vor allem ihre Definition eines „subtilen Machtbegriffes“: Macht sei etwas, das von einem Sektor zum anderen transferiert werden kann. So könne man ökonomische Macht in politische oder militärische Macht umwandeln.

Der Besitz von persönlichen Daten sei in diesem Rahmen ebenfalls ein eintauschbarer Machtkomplex geworden. Es braucht demnach einen neuen Kern in der innovationspolitischen Diskussion: Persönliche Daten sollten wie Güter behandelt werden, die systematisch vom Handelsmarkt ausgeschlossen sind, beispielsweise menschliche Organe, Wählerstimmen oder Wasser.

Abschließend wird ebenfalls angebracht, dass der Umgang mit persönlichen Daten nicht nur ein individuelles Anliegen ist, das nur für Menschen, die etwas zu verbergen haben, relevant ist, sondern Privatheit vor allem schützenswert ist, um kollektiv auch der Gesellschaft zu Gute zu kommen.

Das zweite Buch, „Die Anbetung“, wurde von den Diskussionsteilnehmern insgesamt zwar kritischer betrachtet, seine Bedeutung als interessanter Kontrapunkt zu dem sonst meist akademischen oder technischen Hintergrund der Diskursteilnehmer jedoch trotzdem unterstrichen.

Denn Marie-Louise Wolff bringt zwar ähnliche Argumente wie Véliz, jedoch aus einer ökonomischen Perspektive heraus. Dieser Sichtwechsel ist vor allem für die Formulierung systemischer Forderungen relevant, denn ihr wirtschaftlicher Hintergrund ermöglicht es, Themen wie Regulierung aus der sonst akademisch-abstrakten Ebene herauszuheben, auch wenn sich ihre konkrete individuelle Anleitung zu einem besseren Umgang mit Digitalisierung laut Michael Wiesmüller stellenweise eher wie ein „Achtsamkeitsseminar“ liest.

Vor allem möchte Wolff das Thema Digitalisierung demystifizieren, denn die Menschheit stehe im 21. Jahrhundert vor größeren Herausforderungen – ein Argument, welches im Rahmen der Podiumsdiskussion vor allem bezüglich der Nutzung von privaten Daten zur Covid-Bekämpfung beidseitig beleuchtet wurde.

Aufgrund des Mangels an Zeit und der Fülle an in den Raum gestellten Informationen blieben viele Punkte letzten Endes offen, abgerundet wurde die Veranstaltung jedoch durch die Frage, zu welchen Menschen uns (frei nach Günther Anders) die Technologien, die wir entwickeln, eigentlich machen und zu wem wir durch die Digitalisierung werden.

Wer bis hierhin noch immer nicht dazu angeregt wurde, auch etwas zornig zu werden und seinen gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch im Rahme der Digitalisierung wahrzunehmen, der kann nochmals auf Véliz’ Machtbegriff verwiesen werden: Auch wir Informatiker/innen können unsere Macht des technischen Wissens nutzen, um sie in Macht sozialer Gegebenheiten umzuwandeln.

Denn öffentliches Policy Making beruht auf der Förderung eines Diskurses und nicht nur auf den technologischen Gegebenheiten, und an diesen wird spätestens im Oktober mit dem nächsten Treffen im Hernalser Beisl wieder angeknüpft.