Digitale Dreifaltigkeit: Datafizierung – Algorithmisierung – Plattformisierung

Was verbirgt sich hinter der technisch-nüchternen Fassade der allgegenwärtigen Digitalisierung? Digitalisierung ist kein neues Phänomen. Nach einer ersten Phase der Digitalisierung von Telefonie und Rundfunk sowie den Anfängen des Internets im späten 20. Jahrhundert befinden wir uns seit der Jahrtausendwende in einer zweiten Phase: der Digitalisierung der Gesellschaft.

Sie offenbart sich uns als digitale Dreifaltigkeit, als koevolutionäres Zusammenspiel der Datafizierung von Lebensbereichen, der Algorithmisierung von Auswahlprozessen und der Plattformisierung von Märkten.

Die digitale Dreifaltigkeit ist auf die Beeinflussung von Verhalten ausgerichtet und übernimmt dabei in religionsähnlicher Manier gesellschaftliche Funktionen wie Komplexitätsreduktion, Transzendenzerfahrungen, ontologische Sicherheit, Zusammenhalt und die Erklärung des Unerklärbaren. Vergleichbar mit Staaten und Religionen prägt sie somit die soziale Ordnung in Gesellschaften.

 

Digitale Daten als soziales Kapital

Die Datafizierung von Lebensbereichen generiert Big Data und verdoppelt damit die Welt in Form von digitalen Daten. Dabei handelt es sich um keine Eins-zu-Eins-Reproduktion im Binär-Code, denn sie ist durch unabsichtliche und absichtliche, interessensbezogene Auslassungen und Verzerrungen gekennzeichnet.

Die Algorithmisierung von Auswahlprozessen – eine automatisierte Informationsauswahl und Relevanzzuweisung – zielt mittels Verhaltensbeeinflussung von Konsument:innen und Wähler:innen auf die Monetarisierung der Big Data-Ressourcen ab.

So werden digitale Daten zu ökonomischem, politischem und sozialem Kapital. Datafizierung und Algorithmisierung führen damit auch zu neuen Ungleichheiten und Machtverschiebungen auf der Grundlage von Datenbesitz und -kontrolle.

Die Plattformisierung von Märkten verändert die Organisation hin zu mehrseitigen Märkten, kommerzialisiert auch das Soziale und optimiert so die Bedingungen für eine weitreichende Datafizierung und Algorithmisierung.

 

Transhumanismus

Die digitale Dreifaltigkeit zeigt religionshafte Züge. Sie wird durch den festen Glauben an eine technisch steuerbare menschliche Evolution von Industrie und Politik angetrieben. Das spiegelt sich im Streben nach gesteigerter menschlicher Leistungsfähigkeit auf Basis von Nano-Bio-Info-Cogno-Konvergenz sowie Künstlicher Intelligenz wider und ist mit einem für diesen Glauben stehenden Transhumanismus verbunden.

Dessen Ziel ist die Überwindung menschlicher Grenzen, das Eifern nach bisher den Göttern vorbehaltenen Eigenschaften wie Allwissenheit, Allgegenwart, Allmacht und ewiges Leben.

Auf der Nutzungsseite wird die digitale Dreifaltigkeit durch die Konvergenz von digitaler Technologie und Religion in Form einer impliziten Alltagsreligion vorangetrieben. Diese routinierte, oft unreflektierte tägliche Praxis verändert individuelle Wirklichkeitskonstruktionen, prägt die Sicht der Welt, beeinflusst das Verhalten und schafft somit eine digital transformierte gesellschaftliche Ordnung.

 

Suche nach adäquater Governance

Die Herausforderungen digitaler Gesellschaften gehen weit über Desinformation, Hassrede und Marktmachtkontrolle hinaus. Die Zukunft der Menschheit und des Anthropozäns ist unter Einbezug der Auswirkungen der Digitalisierung als religionsähnliche digitale Dreifaltigkeit zu diskutieren.

Die Suche nach der adäquaten Governance der digitalen Dreifaltigkeit ist weltweit im Gange. Dabei kommen verschiedene Ansätze zur Anwendung, die sich an Risiken, Menschenrechten und ethischen Prinzipien orientieren. Angesichts der Besonderheiten und gestiegenen Komplexität verlangt die Governance der digitalen Dreifaltigkeit nach neuen Strategien und Ansätzen.

(Zusammenfassung des Vortrags im Zuge des International Digital Security Forums (IDSF) in Wien, Juni 2022)

Dieser Beitrag ist im OVE Informationstechnik-Newsletter, Schwerpunkt Social Media, erschienen. Diesen Newsletter, veröffentlicht im Juni 2022, finden Sie hier als Gesamtdokument.

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Weiterführende Informationen:

M. Latzer (2022). The Digital Trinity – Controllable Human Evolution – Implicit Everyday Religion. KZfSS, DOI: 10.1007/S11577-022-00841-8.

Das Konzept der digitalen Dreifaltigkeit wurde als immersive Installation im Rahmen der Ausstellung Planet Digital im Museum für Gestaltung – Zürich von Februar bis Juni 2022 präsentiert. Ein daraus entstandenes Video zur digitalen Dreifaltigkeit (in Kooperation mit Hubertus Design und Sound Design Andalus, Kochstudio Zürich) ist auf dem IKMZmediachange-Youtube-Kanal abrufbar:
Deutsch, Englisch

Prof. Michael Latzer
Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung
Universität Zürich