Die Stimme der Informatik

Univ.-Prof. Dr. Peter Reichl

Verehrte Leserin, geschätzter Leser!

Am 25. Juli 2021 gewinnt Dr. Anna Kiesenhofer von der EPFL Lausanne das olympische Straßenradrennen von Tokyo 2020 und stellt damit die Radsportwelt auf den Kopf. Dies gelingt ihr ohne Unterstützung durch einen Profirennstall (ihr Sponsor ist ein kleines Grazer Küchenstudio), indem sie das tut, was sie als Mathematikerin am besten kann: große unlösbare Probleme auf kleinere lösbare zurückzuführen. In ihrem Fall kann sie es nach eigener Aussage nicht ausstehen, im Peloton zu fahren, also radelt sie zum Aufwärmen erst einmal allein hinter dem Feld her und fährt sodann die gesamte Renndistanz allein vorneweg. „Was für eine Leistung!“ – so die Twitter-Nachricht, mit der Bundespräsident van der Bellen schon kurz nach dem Zieleinlauf gratuliert.

An diesem 25. Juli 2021, wenige Minuten später, hält der Münchner Philosoph Julian Nida-Rümelin die Eröffnungsansprache der Salzburger Festspiele, um dort seine Vision einer „humanistischen Utopie“ zu skizzieren. Angesichts wachsender dystopischer Tendenzen, die er insbesondere bei Klimawandel, drohendem Nuklearkrieg und digitaler Transformation beobachtet, schlägt er ein neues Verständnis von Demokratie nicht nur als Staats-, sondern als Lebensform vor. Dabei greift er auf Platon zurück, der bereits vor 2.500 Jahren angesichts der Entwicklung der Gesellschaft in Richtung eines „Immer-Mehr“ darauf gedrungen habe, Demokratie unter Einbeziehung von Wissenschaft weiterzuentwickeln. Hierfür sei notwendig, wissenschaftliche Kompetenz sowohl bei der politischen Führung wie auch innerhalb der Zivilgesellschaft zu etablieren, was nicht zuletzt die aktuelle Pandemie überdeutlich vor Augen geführt habe. Im Publikum applaudiert (nicht nur) Bundespräsident van der Bellen.

Wissenschaftliches Denken kann also auf erstaunlichste Weise wirksam werden, und hat dabei zugleich eine unbestritten politische Dimension. Im Zuge des digitalen Wandels trifft dies vor allem auch auf die Informatik zu, und ihre Stimme als Fachdisziplin im gesellschaftlichen Diskurs zu stärken ist eines der Ziele der Arbeitsgruppe „Homo Digitalis“ innerhalb der Gesellschaft für Informations- und Kommunikationstechnik im OVE, über die wir in diesem Newsletter wieder berichten dürfen. Zunächst lassen wir hierzu eine Diskussion Revue passieren, die im Rahmen der Digitalkonferenz IMAGINE21 stattfand. Unter dem Titel „Pandora’s Box“ beschäftigten wir uns gemeinsam mit Michael Wiesmüller vom BMK mit zwei hochaktuellen Büchern zu gesellschaftlichen Aspekten der digitalen Transformation. Julia Ornatowski, Informatikstudentin an der Universität Wien, hat hierüber einen engagierten Bericht verfasst; ab Oktober ist übrigens geplant, die allmonatlichen Abendveranstaltungen hierzu wieder aufzunehmen (http://www.homodigitalis.at).

Unter der (diskutablen) Überschrift „Digitaler Humanismus“ werden Fragen an der Schnittstelle von Informatik und Gesellschaft seit einiger Zeit auch zunehmend von Förderorganisationen aufgegriffen. So versammelte im Dezember 2019 die FFG etwa 30 ausgewählte Expert/innen in einem Wellness-Hotel in Krems, um gemeinsam innovative Projektvorschläge zum Thema „Faire KI“ zu entwickeln und in der Folge dann umzusetzen. Alexander Mirnig schildert uns die Ergebnisse von vier der dabei entstandenen Projekte, wie sie im Rahmen eines gemeinsamen Abschlussevents im Juni 2021 vorgestellt wurden.

Schließlich werfen wir noch einen Blick über den großen Teich, wo sich an der Indiana University in Bloomington die interdisziplinäre „AI Crisis Group“ etabliert hat, um sich aus Sicht der „Science and Technology Studies“ (STS) mit gesellschaftlichen und politischen Implikationen der Künstlichen Intelligenz auseinanderzusetzen. Ihr Leiter Hamid Ekbia stellt in seinem Gastbeitrag die Ziele dieser Gruppe vor, mit der uns bereits eine längere Zusammenarbeit verbindet, und lädt zur aktiven Teilnahme ein.

Ein herzliches Dankeschön geht an die Autor/innen der Beiträge, die wieder einmal deutlich machen, wie vielfältige Möglichkeiten und Formate es gibt, um sich über die Folgen der Digitalisierung für uns alle auszutauschen und dabei Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft an einen Tisch zu bringen. Wichtig ist nur, dass wir es tun, und dass wir noch heute damit anfangen.

Denn heute, da ich dies zu Papier bringe, heute ist der 25. Juli 2021.

Herzlichst,
P. Reichl