Reife Leistung und dann?
Warum Frauenkarrieren nicht mit 45 enden dürfen
Was passiert mit ambitionierten Karrieren, wenn sie nicht geradlinig verlaufen? Wenn Fachkräfte pausieren, pflegen, umschulen oder spät einsteigen? Besonders für Frauen in MINT-Berufen werden diese Fragen existenziell. Denn während viele Organisationen beim generellen Thema Diversität Fortschritte machen, bleibt ein Aspekt oft außen vor: das Alter. Oder besser gesagt die Lebensphasen, die eine weibliche Karriere heute prägen.
Die große Frage ist: Haben Unternehmen das wirklich auf dem Schirm, oder bleibt Altersdiversität nur ein leeres Buzzword?
Frauen 45+: Zwischen Expertinnentum und Sichtbarkeitsschwund
Fachlich hochqualifiziert, erfahren, belastbar: Viele MINT-Frauen über 45 bringen genau das mit, was Unternehmen heute händeringend suchen. Und doch erleben viele in dieser Lebensphase einen subtilen Shift: weniger Projektangebote, seltener Förderung, kaum Sichtbarkeit im Talentmanagement.
Gleichzeitig stemmen sie oft Care-Verantwortung für Kinder und/oder Eltern, erleben hormonelle Umbruchsphasen oder orientieren sich beruflich neu. Diese Übergänge sind keine „Risiken“, sie sind Teil weiblicher Realität in der Arbeitswelt. Und sie bergen enormes Potenzial für Unternehmen, die bereit sind, flexibler und individueller auf Biografien einzugehen.
Lebensphasenorientierung: Mehr als ein hübsches Modell im Intranet
Viele Firmen führen so genannte Lebensphasenmodelle ein, doch was bedeutet das konkret? Für eine Expertin, die nach Elternzeit zurückkehrt? Für eine Ingenieurin, die mit 53 eine Weiterbildung in KI macht? Für eine Teamleiterin, die ihre Stunden reduziert, um Angehörige zu pflegen?
Allzu oft bleiben diese Modelle symbolisch: Es gibt zwar Policies, aber keine echte Kultur des Willkommens. Es gibt kaum Führungskräfte, die Rückkehrerinnen aktiv begleiten, und oft wird wenig Flexibilität im Projektalltag geboten. Noch seltener ist die strategische Karriereplanung jenseits der 40.
Mein Appell: Lebensphasen ernst zu nehmen heißt, den Menschen in seiner Komplexität zu sehen, nicht als Ausnahme, sondern als Norm.
Warum Altersdiversität ein strategischer Vorteil ist
Gerade im MINT-Bereich, wo weibliche Fachkräfte ohnehin unterrepräsentiert sind, wäre eine langfristige Laufbahnbegleitung ein echter Wettbewerbsvorteil. Unternehmen, die Frauen nicht nur gewinnen, sondern halten und reaktivieren, bauen nachhaltiger Expertise auf. Zudem zeigt eine Studie der Charta der Vielfalt (2023): Altersgemischte Teams fördern kreatives Denken, verbessern die Fehlerkultur und stärken den Wissenstransfer.
MINT-Frauen mit jahrzehntelanger Erfahrung sind oft die Brückenbauerinnen zwischen technologischer Tiefe und menschlicher Perspektive - ein entscheidender Faktor in agilen, diversitätsgetriebenen Innovationsprozessen.
Was du jetzt tun kannst: als Führungskraft, Mentorin, Expertin
Du bist MINT-Führungskraft? Dann frag dich: Welche Kolleginnen ab 45 hast du zuletzt aktiv gefördert, zu Leadership-Programmen eingeladen oder als Mentorinnen eingebunden? Welche Modelle zur Teilzeit-Führung kennst du? Und: Lebst du sie auch selbst vor?
Du bist Fachexpertin? Nutze Netzwerke, spreche offen über deine Lebensphasen und fordere individuelle Entwicklungsgespräche ein. Je mehr Frauen ihre nicht-linearen Biografien sichtbar machen, desto eher wird ihre Normalität anerkannt.
Du bist HR oder Unternehmensentscheiderin? Dann investiere in altersinklusive Talentstrategien: von Reboarding-Programmen über Reverse-Mentoring bis hin zu gezielter Förderung von Frauen in späten Karrierephasen.
Fazit: Frauenbiografien sind nicht das Problem, sondern essenzieller Teil der Lösung
Altersdiversität ist weit mehr als ein soziales Statement. Sie ist ein zentraler Baustein zukunftsfähiger Unternehmen, aber nur, wenn sie echt gelebt wird. Dafür braucht es Strukturen, die nicht nur auf die junge High-Potential-Ingenieurin ausgerichtet sind, sondern auch auf die erfahrene Projektleiterin mit Pflegeverantwortung. Denn Karriere darf kein Wettlauf mit der Zeit sein, sondern eine Begleitung durch die Zeit.

Andrea König ist Soziologin, Business Mentaltrainerin und Gründerin von Karrieregeflüster – dem Blog für New Work mit Haltung.
Sie beschäftigt sich mit psychischer Gesundheit im Arbeitskontext, mit kritischen Perspektiven auf Führung, Vereinbarkeit und systemische Widersprüche in der modernen Arbeitswelt.
Neben ihrer Tätigkeit im HR-Bereich eines Großkonzerns schreibt sie über das, was viele nur leise denken – und setzt Impulse, die zum Nach- und Weiterdenken einladen.
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