Digitale Souveränität für eine resiliente Gesellschaft

Die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten unserer digitalen Existenz als Folge der rasanten technologischen Entwicklung trüben bei uns allen oft den Blick auf parallel einhergehende Dysfunktionalitäten, welche unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt, unsere soziale Empathie und letztlich auch unsere Freiheit und Menschenwürde in nie zuvor gekannter Weise bedrohen.

Eine kaum noch zu bändigende Markt- und Verhandlungsmacht der globalen Social Media-Plattformen stellt uns im zeitlichen Gleichklang mit großen geopolitischen Verwerfungen vor die wohl größte Herausforderung der bisherigen Menschheitsgeschichte: Wie können wir einem digitalen Humanismus zum Durchbruch verhelfen?

Als Präsident der Gesellschaft für Informations- und Kommunikationstechnik im OVE und Koordinator des vorliegenden Newsletters sowie als Verantwortlicher für Forschung und Entwicklung im Bereich digitaler Sicherheit am AIT habe ich dieses brennende, höchst aktuelle Thema ganz zentral im Blickfeld.

Bei der Ausrichtung unserer Aktivitäten habe ich daher meine Überzeugung eingebracht, dass wir angesichts immer kurzlebigerer Innovationszyklen und der enorm wachsenden Dynamik von neuen Datenmärkten und immer umfassenderer Verwendung von Daten für die in aller Munde befindlichen neuen Einsatzszenarien von Künstlicher Intelligenz entsprechende Rahmenbedingungen brauchen, die unsere ethischen Werte, rechtsstaatlichen Prinzipien und Mechanismen von freien Demokratien als Gestaltungsmaxime mitberücksichtigen.

Ein verantwortungsvoller Einsatz von digitalen Technologien wird dann sichergestellt, wenn man sich bei aller Euphorie über das Machbare stets am menschlichen Wohl orientiert. Man könnte auch sagen: Naturwissenschaftliche Brillanz braucht das geisteswissenschaftliche Korrektiv.

Als AIT haben wir uns bei der Entwicklung sicherer und einem europäischen Werteverständnis folgender digitaler Technologien über Jahre einen Namen gemacht und viele Forschungsvorhaben und Projekte von Anfang an in einen gesellschaftlichen, rechtlichen und ethischen Diskurs eingebettet. Im Rahmen des diesjährigen Europäischen Forums Albach haben wir dazu im Kontext des Gaia-X Hub Austria ein eigenes „Lab“ organisiert, um mit namhaften Expert:innen in einem sehr interdisziplinären Diskurs die unterschiedlichen Facetten von Datensouveränität zu erörtern und Empfehlungen für zukünftige Handlungsfelder in der österreichischen und europäischen Politik herauszuarbeiten.

Im September haben wir bei der dritten Auflage des „International Digital Security Forums (ISDF) Vienna“ diesen Stakeholder-Dialog noch umfassender fortgesetzt. Das IDSF konnte sich gerade mit der von Beginn an verfolgten Vernetzung von Vertreter:innen von Behörden, politischer Entscheidungsträger:innen und Diplomat:innen mit Sicherheits- und Digitalisierungsexpert:innen aus aller Welt und mit seiner ganz gezielt auf drängende Gegenwartsfragen der IT- und Netzgesellschaft fokussierenden Programmatik in nur wenigen Jahren zu einer global wahrgenommen Marke entwickeln.

Ein paar der sehr interessanten Diskussionen, die im Zuge des Alpbach Labs bzw. der IDSF Konferenz mit tief in die Materie eingetauchten Wissenschaftler:innen, Menschenrechtsaktivist:innen und engagierten Aufklärer:innen geführt wurden, möchte ich in diesem Newsletter teilen: Vier Expert:innen stellen im Folgenden ihre Expertisen und Sichtweisen vor. Der so dargestellte Diskurs über digitale Verantwortung und Datensouveränität aus unterschiedlichsten Betrachtungsperspektiven stellt eine sehr interessante Erörterung dar.

Der erste Essay des vorliegenden Newsletters stammt von Misha Glenny, Rektor des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Er hat als Historiker, Philosoph und ehemaliger Korrespondent anglikanischer Spitzenmedien in seinem Essay „A problem of human scale: technological revolutions and their impact” einen geschichtlichen Vergleich unseres heutigen digitalen Umbruchs mit früheren Technologierevolutionen gezogen - jener der Erfindung des Buchdrucks zu Zeiten der Renaissance und Reformation und jener des Aufkommens der Dampfmaschine und der Entwicklung industrieller Massenproduktionsprozesse.

Mit beiden begann ein neuer Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte mit der augenscheinlichen Evidenz eines zeitlichen Zusammenfallens von technologischem Fortschritt mit geo-politischen Verschiebungen, mit von Mal zu Mal sich verschärfender gesellschaftlicher Dramatik. Für Glenny gilt es, jetzt die Zeichen der modernen Apokalypse zu erkennen und die Bedrohungen, die das Potenzial haben, die Menschheit auszulöschen – Klimakrise, Massenvernichtungswaffen, Epidemien und nicht zuletzt unsere Überabhängigkeit von vernetzten Computersystemen und Künstlicher Intelligenz – ohne Aufschub zu adressieren.

Dominika Hajdu, Leiterin des Center for Democracy and Resilience beim slowakischen Think Tank GLOBSEC, hat mit ihrem Beitrag „Europe is at war: we must act accordingly” auf Basis umfangreicher Feldstudien ihres Instituts ganz unverblümt auf die massenhafte Anwendung hybrider Einflusstaktiken Russlands zur Unterwanderung unserer demokratisch ausgerichteten Staaten in Europa in Ergänzung zum kinetisch vom Zaun gebrochenen Krieg gegen die Ukraine hingewiesen.

Sie weiß als Verfechterin freiheitlicher Werte nur zu gut, wie schnell nur 30 Jahre nach dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“, dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums, gesellschaftliche Instabilitäten in den Ländern Mittel- und Osteuropas neue Totalitarismen befördern können. Für den Aufbau von Resilienz müssen unsere Gesellschaften jetzt an drei Fronten tätig werden: im Cyber Space, im Bereich der Informationsregulierung und im öffentlichen Sektor, der sein unzureichendes Arsenal an Instrumenten zur Abwehr potenzieller Bedrohungen aus dem Netz dringend nachschärfen muss.

Katja Mayer vom Institut für Wissenschafts- und Technikforschung an der Universität Wien hat uns mit ihrem Artikel „Künstliche Intelligenz: Open Science als Schlüssel zu Fairness, Transparenz und Innovation“ als anerkannte akademische Expertin für Forschungs- und Innovationspolitik im Bereich der Digitalisierung sowie für Wissenschaftsdiplomatie ein starkes Plädoyer für die internationale Verfolgung eines „Open Science“-Ansatzes, mit dem wissenschaftliche Erkenntnisse, Methoden und Daten für alle frei zugänglich, nutzbar, weiter teilbar und veränderbar sind, vorgelegt.

Mit „Open Science“ könnte das heute zwar schon weit verbreitete „Open Source“-Prinzip, mit dem mehr Transparenz in der Technologieentwicklung angestrebt, welches aber von den großen privilegierten Akteuren mit ihren riesigen Rechenkapazitäten und der Geheimhaltung über angewandte Trainingsdaten für Künstliche Intelligenz immer wieder unfair unterlaufen wird, methodisch auf die Gesamtqualität einer Technologie ausgedehnt werden. Für die künftige Regulierung wird es unerlässlich sein, Standards, Richtlinien und Kontrollmechanismen auf „Open Science“ umzustellen.

Der letzte Newsletter-Beitrag von Tünde Fülöp, „Die Einhaltung von ethischen und menschenrechtlichen Standards als Konkurrenzvorteil im globalen Wettbewerb“, vom Research Institute in Wien, welches sich seit Jahren sehr konsequent und erfolgreich für wertebasiertes und grundrechtskonformes „Human Dignity by Design“ von Dienstleistungen und Produkten einsetzt, zeigt auf, wie Unternehmen mit einem alternativen Wirtschaftsmodell gemäß den neuen Rechtsakten in der EU gegen die Erosion digitaler Souveränität ankämpfen können.

Ein Compliance-Bekenntnis europäischer Unternehmen zu „Data Governance Act“, „Data Act“, „AI Act“ und den Pflichtenregelungen des „Digital Markets Act“ und des „Digital Services Act“ kann den illegalen Datenmarkt-Praktiken großer Social Media-Plattformen mit fehlender algorithmischer Moderation für die Hintanhaltung der Verbreitung von Desinformation entgegenwirken. Mit der jetzt auf den Weg gebrachten Regulierung kann sich der „Brussels effect“ der DSGVO durchaus wiederholen und damit europäische Unternehmen zu neuen Geschäftsmodellen mit Mehrwert befähigen.

Der vorliegende Newsletter ist bewusst multidisziplinär, und es war auch unsere Absicht, unsere Leserinnen und Leser nach der Lektüre etwas nachdenklich zurückzulassen.

Helmut Leopold_AIT
Dipl.-Ing. Helmut Leopold, PhD
Präsident der OVE Informationstechnik
Head of Center for Digital Safety & Security
AIT Austrian Institute of Technology GmbH