Stand der Technik — Regel der Technik — Verbindlichkeit
(Auszug aus dem Tagungsbeitrag von Dipl.-Ing. Christian Gabriel zum SV-Symposium „Der Stand der Technik“, Tagungsband, Neuer Wissenschaftlicher Verlag, 2007) Die Elektrotechnik hat als eine der Grunddisziplinen des Ingenieurwesens bereits eine lange Tradition des dokumentierten Standes der Technik und der technischen Regelsetzung hinter sich. Funktionalität und vor allem Sicherheit zwingen in der Elektrotechnik zu einer Verständigungsbasis, die technische Erkenntnisse vergleichbar und reproduzierbar machen.
So wurde bereits im Jahre 1889 vom Elektrotechnischen Verein Wien — dem Vorläufer des Österreichischen Verbandes für Elektrotechnik — die Sicherheitsvorschrift EVWI herausgegeben, um Anforderungen an elektrische Anlagen im Rahmen des damaligen Standes der Technik für den sicheren Umgang mit Elektrizität festzulegen.
Heute umfasst das elektrotechnische Normenwerk ca. 5.000 Publikationen und eine Vielzahl weiterer normativer Dokumente. Der Stand der Technik wurde und wird durch Regeln der Technik beschrieben. Beide Begriffe und weitere Termini werden oftmals im Alltag verwendet, ohne jedoch die unterschiedlichen Nuancen zu beachten.
1. Begriffsbestimmungen
Definitionen zum Stand der Technik finden sich sowohl in internationalen als auch europäischen normativen Dokumenten, im internationalen ISO/IEC-Guide 2 und in der auch in Österreich übernommenen europäischen Norm ÖVE/ÖNORM EN 45020. Auf nationaler Ebene wurde der Begriff zudem in für den elektrotechnischen Bereich relevanten Gesetzen, in Gewerbeordnung und im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz definiert.Vergleicht man nun die im Text unterschiedlichen, aber sinnverwandten Definitionen, so kann man zusammengefasst sagen, dass der Stand der Technik durch folgende Merkmale charakterisiert wird:
- entwickeltes Stadium der technischen Möglichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt
- basierend auf gesicherten Erkenntnissen
- erprobte und/oder erwiesene Funktionstüchtigkeit.
In Gegenüberstellung zum Technischen Fortschritt und somit auch zum Stand der Wissenschaft hat der Stand der Technik ein „gereiftes” Stadium, die auf ihn beruhenden Erkenntnisse und technologischen Verfahren sind entwickelt und gesichert, da erprobt bzw. erwiesen. Beiden Stadien (Stand der Technik/Stand der Wissenschaft) gemein ist, dass sie nur zu einem bestimmten Zeitpunkt greifbar sind. Der Stand der Technik ändert sich wie der Stand der Wissenschaft laufend mit dem technischen Fortschritt.
2. Anerkannte Regel der Technik
Gemäß Definition aus ÖVE/ÖNORM EN 45020:2007-02-01 – Abschnitt 1.5 ist eine anerkannte Regel der Technik eine „technische Festlegung, die von einer Mehrheit repräsentativer Fachleute als Wiedergabe des Standes der Technik angesehen wird“.
Um den mit dem technischen Fortschritt sich stets weiter entwickelnden Stand der Technik einheitlich darzustellen, z. B. für Konstruktionsüberlegungen und Beurteilungen, wird er zweckmäßig zu einem bestimmten Zeitpunkt festgelegt. Diese Festlegungen werden als Regel der Technik bezeichnet, wobei man von einer anerkannten Regel der Technik spricht, wenn diese von einer qualifizierten Mehrheit festgelegt wurde.
In der Elektrotechnik sind normative Dokumente, die als Regeln der Technik den Stand der Technik beschreiben, wesentlicher Bestandteil der Arbeitsgrundlagen im Ingenieurwesen. Sie bilden eine Kommunikationsbasis und legen einen einheitlichen, über Grenzen hinweg kompatiblen Stand der Technik fest.
Normative Dokumente können folgende Veröffentlichungsarten besitzen:
- eine klassische Norm, herausgegeben von einer anerkannten Normungsorganisation, entstanden in einem Konsensverfahren
- eine technische Spezifikation, die technische Anforderungen festlegt
- Vorschriften der Behörde, wie z. B. die EMV-VerordnungAnleitungen für die Praxis, mit Empfehlungen von Praktiken oder Verfahren
Das normative Dokument als Regel der Technik kann, muss jedoch nicht eine Norm sein. Die drei letzt genannten Dokumentenarten können sich aber auf Normen stützen. Die Regel der Technik ist nicht nur auf das Beschreiben der technischen Möglichkeiten gemäß des Standes der Technik beschränkt. Darüber hinaus kann sie Regeln im Sinne von Vereinbarungen festlegen.
3. „Verbindliche“ Regeln der Technik
Der Bereich Elektrotechnik ist durch eine Vielzahl von Richtlinien der EU reglementiert, die als bindendes Recht einzelstaatlich umgesetzt werden müssen. In Österreich hat man sich entschieden, die Richtlinien der EU nicht auf Gesetzesebene, sondern flexibler im Verordnungsweg zu implementieren. So werden z. B. die Niederspannungsrichtlinie oder die EMV-Richtlinie in Österreich durch die Niederspannungsgeräteverordnung bzw. die EMV-Verordnung auf Grund des Elektrotechnikgesetzes umgesetzt.
Der Geltungsbereich der für den Bereich Elektrotechnik zutreffenden Richtlinien der EU erstreckt sich vornehmlich auf Betriebsmittel. Der Bereich der elektrischen Anlagen wird heute noch einzelstaatlich geregelt. Es ist daher zweckmäßig, neben den (Betriebsmittel-)Verordnungen mit EU-rechtlicher Basis eine gesonderte Regelung für elektrische Anlagen — ohne EU-rechtliche Basis — zu treffen. Dies geschieht in Österreich über die Elektrotechnikverordnung ETV. Ein Merkmal der EU-Richtlinien nach dem so genannten New Approach [18] ist die Angabe von grundlegenden Anforderungen anstelle einer taxativen Auflistung von anzuwendenden Normen. Der Grund für diese „Freizügigkeit“ liegt darin, dass der technische Fortschritt nicht durch die zwingende Forderung nach Regeln der Technik behindert werden soll. Dem Hersteller von Betriebsmitteln soll es möglich sein, innovative Ideen bei der Produktentwicklung einbringen zu können. Bei Nichtanwendung oder nur teilweiser Anwendung von Normen wird aber der Hersteller in die Verpflichtung genommen, die Erfüllung der grundlegenden Anforderungen zu dokumentieren, in manchen Bereichen (z. B. EMV) ist hier sogar die Einschaltung von Drittprüfern notwendig. Im Bereich der elektrischen Betriebsmittel ist also die Anwendung der Regeln der Technik nicht zwingend, der Hersteller kann sich am Stand der Technik, ja sogar am Stand der Wissenschaft, orientieren. Die Entscheidung, ob die Konstruktion gemäß den Regeln der Technik oder gemäß dem Stand der Technik bzw. dem Stand der Wissenschaft erfolgt, ist eine Frage der möglichen Marktakzeptanz und Nachhaltigkeit und somit eine kaufmännische Risikoabschätzung. Der Hersteller, oder besser der Errichter, von elektrischen Anlagen hat diese Entscheidungsfreiheit grundsätzlich nicht. Der Sicherheit elektrischer Anlagen wird hinsichtlich Fehler- und Brandschutz ein derart hoher Stellenwert eingeräumt, dass die strikte Einhaltung der zutreffenden Regeln der Technik verbindlich vorgeschrieben wird. Der Gesetzgeber überlässt hier dem Errichter keine individuelle Risikoabschätzung.
Im Wege der ETV werden daher zutreffende Österreichische Bestimmungen für die Elektrotechnik (OVE E/EN) sowie ÖNORMEN als verbindlich in der Anwendung erklärt (so genannte SNT-Vorschriften, elektrotechnische Sicherheitsvorschriften und Vorschriften über Normalisierung und Typisierung).
Es existieren im Bereich der elektrischen Anlagen also verbindlich anzuwendende Regeln der Technik, die allesamt Normen sind. Da diese Normen Mindestanforderungen darstellen, darf grundsätzlich eine „bessere“ Konstruktionslösung gewählt werden. So darf natürlich ein höherer Leitungsquerschnitt zur Anwendung kommen und ein niedriger Nennfehlerstrom der Fehlerstrom-Schutzeinrichtungen gewählt werden, als die Bestimmungen fordern. Diese bedingte Entscheidungsfreiheit befreit aber nicht von der Notwendigkeit von Ausnahmebewilligungen durch die Behörde bei der Anwendung alternativer Lösungsansätze.